- Startseite
- Aktuelles / Presse
- Noch einmal nach Kappeln
Noch einmal nach Kappeln
Drei Engel für Clara.
„Wer Lust auf Fischbrötchen hat und diese Fahrt begleiten möchte, meldet sich gerne bei mir!“ Birgit, Koordinatorin des Wünschewagens, gibt zu jeder geplanten Fahrt ein paar Informationen. Wann soll die Fahrt stattfinden, wohin soll es gehen, was ist geplant. Manchmal sind es ganz aufregende Sachen, ein Besuch bei „Shopping Queen“ war schon dabei, Musicals, Konzerte (die Älteren von uns erinnern sich vielleicht noch daran, dass es so etwas mal gab…) oder ein besonderer Wunsch-Ort. Und jetzt also ein Fischbrötchen.
Es gibt wenig Dinge auf der Welt, die ich schlimmer finde als Fischbrötchen. Dass ich mich trotzdem für diese Fahrt gemeldet habe - und ganz besonders aufgeregt war - liegt daran, dass es nicht einfach ein Fischbrötchen sein sollte, sondern eins mit Blick auf die Schlei. In Kappeln. Der Stadt, in der ich seit einigen Jahren wohne, arbeite und die ein bisschen mein Zuhause geworden ist. Kappeln ist zauberhaft, es gibt viel Natur, einen wunderschönen Hafen und eine kleine Innenstadt, in der man (fast) alles bekommt. Theoretisch. Denn auch, wenn sich vieles schon wieder fast „normal“ anfühlt, gibt es viele Einschränkungen, besonders, was die Gastronomie angeht. In den Unterlagen steht, dass Clara (die, so wie die anderen Mitglieder ihrer Familie, anders heißt), querschnittsgelähmt ist. Ein „normaler“ Rollstuhl ist schon eine Herausforderung in Bezug auf Platz, Abstand, Eingänge etc. - ein Liegerollstuhl noch um einiges mehr, weil er größer ist. Ein Fischbrötchen werden wir auf jeden Fall bekommen, aber was, wenn es regnet, oder wir keinen Platz finden…?
Ich arbeite im Rathaus, einige der Kolleginnen und Kollegen kennen den Wünschewagen und wissen, dass ich ehrenamtlich Fahrten begleite. Heiko Traulsen, Bürgermeister der Stadt, ist sofort interessiert und bietet Unterstützung an. Meine Wünsche sind klar: Fischbrötchen, Kaffee, einen schönen Platz, an dem wir sitzen können und, ach ja, Sonne wäre schön. Wir wären dann Samstag gegen 11.00 Uhr da. Klare Arbeitsteilung, ich bin guter Dinge, als ich Patrick und Laura im Hospiz in Gettorf treffe. Wir sind die „Drei Engel für Clara“ an diesem Tag, auch wenn ich abends das Gefühl habe, dass wir beschenkt wurden. Lucie, Claras Tochter, geht gemeinsam mit uns in das Zimmer, in dem ihre Mutter betreut wird. Ich frage nach dem Dialekt, beide kommen ursprünglich aus Berlin, Lucie kam der Liebe wegen vor fast 30 Jahren nach Schleswig-Holstein und ist geblieben, Clara hat viele Jahre fast 700 Kilometer entfernt im Süden Deutschlands gewohnt - und ist jetzt, in ihrer letzten Lebensphase, endlich da, wo sie sein möchte. Jetzt möchte sie nach Kappeln, ihrem ganz besonderen Sehnsuchtsort.
Die Mitarbeiterinnen im Hospiz sind liebevoll-professionell und wünschen uns eine gute Fahrt. Das Haus ist erst im letzten Jahr eröffnet worden, es sieht noch neu aus und Lucie erzählt lachend, dass ihr Mann, als Tischler, auch schon mal ganz praktisch Hilfe geleistet hat, als eine Tür klemmte. Diesen Pragmatismus brauchen wir auch jetzt, um den Rollstuhl, der eigentlich gar nicht in den Wagen passt, doch mitnehmen zu können. Patrick kommt aus dem Rettungsdienst und findet eine gute Lösung. Wir transportieren Clara liegend, Lucie und ich sitzen bei ihr, Laura vorne bei Patrick. Die Fahrt ist relativ kurz, wir nutzen die Zeit, um uns ein bisschen besser kennenzulernen, auch wenn ich bereits im Hospiz ein Gefühl von großer Sympathie hatte. Ich habe es noch nie erlebt, dass die Chemie zwischen Fahrgast und Begleitungen nicht stimmt, trotzdem ist es immer wieder ein aufregender Moment und eine große Herausforderung. Wir verbringen einen Tag mit viel körperlicher - und im Idealfall emotionaler Nähe miteinander.
Clara erzählt aus ihrem Leben und der Erkrankung. Eine so seltene Form von Hautkrebs, dass sie beim besten Willen nicht erkannt werden konnte. Und von der Lähmung, die nach der OP vor einigen Monaten eingetreten ist. Die Situation, fast immer und überall auf Hilfe angewiesen zu sein, ist für sie, die viel lieber gibt als nimmt, relativ neu. Und definitiv nicht einfach. Ich bin bereits nach einigen Minuten ein totaler Fan von ihr und kann Lucie verstehen, die sie immer wieder liebevoll, traurig und glücklich zugleich ansieht. Das Zusammensein im Wagen erleichtert das Kennenlernen, ich freue mich, dass ich das erleben darf und bin Laura und Patrick dankbar, als wir in Kappeln ankommen.
Es gibt viele „Wünschewagen-Phänomene“, eins davon ist die gute Zusammenarbeit der Ehrenamtlichen untereinander. Patrick parkt am Hafen, bereits beim ersten Aussteigen funktioniert alles mit uns und dem ganzen Drumherum prima. Der Rollstuhl lässt sich gut bewegen, auch wenn mir im Laufe des Tages klar wird, dass Kappeln ziemlich hügelig ist. Und, dass es einiges gibt, was ich gar nicht weiß - zum Beispiel, wo der Rollstuhl gerechte Eingang des Fischgeschäfts ist.
Wenn Birgit die Fahrten organisiert, gibt es immer eine Art Plan für alle Beteiligten, auf der Zeiten, Orte, Kontaktdaten und die Funktionen aller Teilnehmenden notiert sind. Bei mir schrieb sie diesmal: „Tinka Beller, Stadtführerin ;-)“ Mein Orientierungssinn ist so wenig ausgeprägt, dass ich mich locker in einer Telefonzelle verlaufen könnte, ein weiterer Grund, warum ich gerne den Rollstuhl schiebe. Das erhöht meine Chance, nirgendwo verloren zu gehen, weil niemand ohne den Fahrgast fahren würde... Jetzt, in Kappeln, entwickele ich so etwas wie Ehrgeiz, es wäre ja gelacht, wenn ich mich hier nicht auskennen würde…! Dass Patrick sicherheitshalber auf den Routenplaner im Handy guckt, ignoriere ich einfach, und fast auf dem direkten Weg stehen wir vor dem richtigen Eingang. Nach dem Weg durch ein gefühltes Labyrinth sind wir ein paar Minuten später am Wunschort - und Clara und Lucie versorgen sich mit Fischbrötchen. So, wie die beiden lächeln und sich freuen könnte man denken, wir haben den heiligen Gral gefunden.
Mit den Fischbrötchen und einem Aal im Gepäck machen wir uns auf den Weg zu unserer „VIP-Location“. Herr Traulsen hat seinen Teil unserer Arbeitsteilung optimal erfüllt und erwartet uns vor Ort. Wir dürfen auf die Terrasse des „Pier-Speicher“, eine tolle Location, direkt mit Blick auf den Hafen, wo wir windgeschützt sitzen können. Das Team vor Ort ist reizend, der Kaffee sehr lecker (Ich komme wieder!) und das Fischbrötchen scheinbar die absolute Erfüllung. Herr Traulsen bleibt, schnackt mit Clara und Lucie über den Wunsch, nach Kappeln zu kommen (was er scheinbar sehr gut verstehen kann), mit Laura und Patrick über den Wünschewagen, Fahrkünste (vermutlich meine) und ich bin ein bisschen begeistert, wie schön dieser Tag bereits ist. Clara macht sich zwischendurch jede Menge Gedanken. Ob Herr Traulsen nicht friert, weil er nur ein Jacket trägt. Ob der Aal, den wir gekauft haben, nicht zu teuer ist. Ob ich wirklich den schweren Rollstuhl schieben kann, weil ich einige Tage vorher gefallen bin und meine Hände etwas lädiert sind. In all dem steckt so was wie eine Unsicherheit, ob sie „diesen ganzen Aufwand wirklich wert ist“ - Lucie bestätigt, dass es für ihre Mutter gar nicht so leicht ist, das alles anzunehmen. Ja, liebe Clara, das warst und bist du, inkl. Fischbrötchen und allem, was dazu gehört! Den Fahrgästen entstehen nie Kosten, weil das, was wir bezahlen, vom ASB übernommen wird – weil es viele Spenderinnen und Spender gibt. Umso schöner, wenn wir, wie in diesem Fall, zum Kaffee eingeladen werden. Danke!
Der Wunsch war ganz klar und mit dem Fischbrötchen in toller Umgebung und schöner Gesellschaft in Claras Gefühl bereits mehr als erfüllt. Die Überraschung, als ihr Enkel Marco samt Verlobter Vivian am Hafen auf sie zukamen, war großartig. Lucie hatte sie informiert, wo sie uns finden. Herzlichkeit scheint in der Familie zu liegen, wir waren sofort alle miteinander „am schnacken“, während wir unseren Stadtrundgang fortgesetzt haben. Kurzer Stopp an der Buchhandlung. Ich hatte im Vorfeld nach einer „Kleinigkeit“ gefragt, einem Becher o.ä., was Clara als Erinnerung mitnehmen könnte. Das liebevoll ausgesuchte und verpackte Geschenk, das sie bekommen hat, hat uns vermutlich alle begeistert. Besonders die handgeschriebene Karte mit den guten Wünschen.
Auf dem Weg zum Café, um Torte zu kaufen (erwähnte ich bereits, dass jede Wunschfahrt ca. 1 Kilo Gewicht bedeutet…?) haben Marco und Vivian von ihrer geplanten Hochzeit im August gesprochen. Und Claras großen Wunsch, daran teilnehmen zu können. Clara sieht dem kleinen Wünschewagen-Bärchen, das sie fest auf dem Schoß hält, in die Augen: „Das ist mein ganz großes Ziel, das würde ich so gerne erleben!“. Berührt sehe ich ein Video, das Marco auf dem Handy zeigt. Clara, auf einer Feier vor einigen Jahren. Beim Rock´n Roll Tanzen. Ihre Energie und Freude sind auch jetzt deutlich spürbar: „Tanzen ist vielleicht ein bisschen schwierig, aber obenrum funktioniert ja alles!“ Sie strahlt uns an und der kurze Moment von Traurigkeit weicht der Vorfreude. Auf die Hochzeit - und den Kuchen, den wir jetzt kaufen wollen. Lucie ist extra in den Bio-Markt, um etwas ohne Weißmehl und Zucker für Clara zu besorgen. Wir anderen steuern direkt auf ein Café zu - ich kenne die Konditorin und die Torten, beides wunderbar! Keine Ahnung, wie es passieren konnte, aber als wir in Arnis (kleinste Stadt Deutschlands, sehr sehenswert, kaum Gefahr, sich zu verlaufen...) am Strand angekommen sind, haben wir festgestellt, dass wir „zufällig“ ein Stück Marzipantorte zu viel hatten, „ganz zufällig“ Claras Lieblingskuchen…
Und Clara, die morgens noch ein bisschen zögerlich wirkte, ob sie das alles wirklich so (an-)nehmen könnte, hat uns alle mit ihrem Lächeln und ihrer Freundlichkeit angesteckt.
Das kleine Bärchen wurde in der Zwischenzeit „Knopfauge“ getauft, ihm hat sie erzählt, wie gut es ihr geht, wie unglaublich schön dieser Tag für sie ist („Das ist einer der schönsten Tage meines Lebens! Es sind alle so lieb und freundlich!“) und wie sehr sie das alles genießt. Ich stand häufig in ihrer Nähe und habe etwas mitgehört, berührt und beeindruckt von ihr und ihrer Lebensfreude. Tage mit dem Wünschewagen sind Tage, die niemals enden sollen. Weil die Momente so intensiv sind, allen bewusst ist, dass es etwas ganz Besonderes ist und so nicht wiederholt werden kann. Wie soll so ein Tag enden, der schon so wunderbar begonnen hat…? Darauf gibt es vermutlich nur eine Antwort: Mit Pommes! Marco und Vivian verabschieden sich, wir fahren mit dem Wünschewagen an den Weidefelder Strand. Hier gibt es „die weltbesten Pommes“, wenn man Theo, dem Eigentümer glaubt. An diesem Abend waren sie das, ganz besonders, weil es zu der Einladung zu Pommes & Cola auch noch Anerkennung und liebe Worte gab. Ich hoffe, dass alle Menschen, die uns an diesen Tagen durch kleine oder große Gesten unterstützen, und anlächeln oder etwas Nettes sagen wissen, wie sehr wir das wertschätzen. Gerade die gefühlten Kleinigkeiten sind die, die häufig ganz besonders in Erinnerung bleiben.
Bei Clara waren die Highlights ganz klar:
Der Bürgermeister war da! Wir sind zu den Pommes eingeladen worden! Und: Sie durfte das kleine Bärchen behalten!
Die Stimmung ist gelöst, als wir zurückfahren nach Gettorf. Es fühlt sich an wie nach einem Sommertag mit der Familie, etwas anstrengend, alle sind müde, aber es war total schön. Mein Schrittzähler zeigt 10.431 Schritte an dem Tag, kein Wunder, dass wir ein bisschen kaputt sind, als wir uns von Clara verabschieden. Sie nimmt meine Hände, drückt sie ganz fest und ich weiß, dass sie das, was sie dem Bärchen gesagt hat, uns allen gesagt hat. Dass es ein ganz besonderer Tag war. Und es manchmal einfacher ist, das einem kleinen Bären zu erzählen. Mein Herz ist ein bisschen schwer, als ich zu meinem Auto gehe, aber ich freue mich schon jetzt auf die Fotos, die Lucie uns schicken wird. Die von heute - und die von der Hochzeit im August, auf der Clara ganz bestimmt der Ehrengast sein wird!“